Bremen soll eine Solidarity City werden!

Solidarity City ist eine in den 70er Jahren entstandene Bewegung, die inzwischen in über 250 Städten weltweit einen Platz gefunden hat. Dazu gehören beispielsweise die Städte Los Angeles, New York, Chicago, Toronto, und auch europäische Städte wie Barcelona, Glasgow, Oxford, Palermo und Mailand1. In Deutschland gibt es zahlreiche zivilgesellschaftliche Initiativen, die den Ansatz der Solidarity Cities verfolgen, unter anderem in Berlin, Hannover, Darmstadt, Freiburg, Osnabrück und Bremen. Der Grundgedanke von Solidarity Cities liegt darin, dass alle Menschen, die in einer Stadt wohnen, unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus, Geschlecht oder sozialer und ethnischer Herkunft die gleichen Rechte haben. Dabei handelt es sich um demokratische Grundrechte, die sowohl in der UN-Menschenrechtskonvention als auch im Grundgesetz verankert sind, wie das Recht auf ärztliche Versorgung, Bildung, Arbeit und gleichen Lohn oder das Recht auf soziale Absicherung und ein Leben in Würde. Teilhabe am kulturellen und sozialen Leben der Stadt sowie ein Leben ohne Angst vor polizeilichen oder aufenthaltsrechtlichen Maßnahmen sind ebenfalls Bestandteile der Solidarity Cities. Es hat sich gezeigt, dass das solidarische Miteinander und die Gleichstellung von Menschen ohne Papiere oder mit einem prekären Aufenthaltstitel zu einer geringeren Kriminalität und Arbeitslosigkeit führt sowie zur Reduzierung von Ausbeutung und schlechten Arbeitsbedingungen, und damit auch zu einer großen Zufriedenheit und Wohlbefinden aller Einwohner*innen der Stadt.

Die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland legt im Artikel 28 die kommunale Selbstbestimmung fest, auch wenn diese Selbstbestimmung sich zugleich an der „verfassungsmäßigen Ordnung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung“ gebunden sieht (Artikel 20, Abs. 3). Den Ländern stehen rechtliche Spielräume zur Verfügung, eigene Verwaltungsvorschriften und Gesetze zu erlassen: „Führen die Länder die Bundesgesetze als eigene Angelegenheit aus, so regeln sie die Einrichtung der Behörden und das Verwaltungsverfahren“ (Artikel 84). Im Bereich des Aufenthaltsgesetzes wird die Ausführung durch die Länder bestimmt und diese übertragen wiederum die Zuständigkeit an die kommunalen Ausländerbehörden nach eigenem Ermessen (§ 71 Abs 1 AufenthG). An dieser Rechtslage knüpft der Grundsatz Solidarity City an. Die Städte sollen jene Spielräume nutzen, um alle Bürger*innen mit den gleichen Rechten auszustatten und zu verhindern, dass die Gesellschaft aus Menschen besteht, die Rechte erster, zweiter und dritter Klasse zugebilligt bekommen. Die Lebensbereiche, mit denen sich die Solidarity Cities befassen sind umfangreich, und in jedem von ihnen besteht ein dringender Handlungsbedarf. Im Folgenden wollen wir einige Aspekte erörtern, die den vorliegenden Antrag begründen.

Der Aufenthaltsstatus bestimmt einen äußerst relevanten Anteil des Alltags vieler Bürger*innen jeder Stadt. Niemand kann sich um einen Beruf, eine Wohnung oder eine Ausbildung bemühen, wenn die Bedrohung einer Abschiebung ins Ausland oder Verteilung in andere Städte im Bundesgebiet wie ein Damoklesschwert über den Kopf schwebt.

Integration oder Spracherwerb werden erheblich erschwert, wenn man sich um das eigene Leben oder das von Familienangehörigen und anderen nahestehenden Personen sorgen muss. Menschen können sich gegen Gewalt, Kriminalität und Ausbeutung nicht zur Wehr setzen, wenn sie nicht bei der Polizei aus aufenthaltsrechtlichen Gründen keinen Schutz suchen können. Aus diesen und vielen anderen Gründen ergeben sich zwei wichtige Säulen von Solidarity Cities: „no deportations“ und „don’t ask, don’t tell“. Damit ist gemeint, dass der Aufenthaltsstatus der Bürger*innen bei der Nutzung von kommunalen Sozialleistungen, wie zum Beispiel der Gesundheitsregelversorgung, nicht abgefragt wird. Um diesen Weg offiziell und ordnungsgemäß zu gehen, wurde in der Stadt New York in 2014 ein kommunaler Stadtausweis eingeführt, den alle New Yorker*innen bekommen, wenn sie beweisen, dass sie in der Stadt wohnen. Dieser Ausweis gilt bei allen städtischen Behörden und sogar einigen privaten Unternehmen der Stadt. Dementsprechend können alle Menschen einen Arzt oder Ärztin besuchen, zur Schule gehen, ein Bankkonto eröffnen, die Stadtbibliothek benutzen oder sich um eine Arbeitsstelle bewerben. Auch ohne einen Stadtausweis kann Personen ohne Aufenthaltsstatus ein besseres Leben ermöglicht werden, zum Beispiel mit einer positiven Auslegung des Aufenthaltsgesetzes durch die kommunalen Ausländerbehörden, mit der Ausgabe von anonymen Krankenscheinen oder anonymisierten Gesundheitskarten, mit der Abschaffung von Racial Profiling durch Sicherheitskräfte oder allein schon, wenn Behörden, für die ohnehin keine Meldepflicht nach § 87 AufenthG besteht, sich an die Vorschriften halten und nicht nach dem Aufenthaltsstatus fragen.

Am 26. September 2018 haben sich die Stadtstaaten Berlin, Hamburg und Bremen zum sicheren Hafen erklärt. In einer gleichdatierten Pressemitteilung des Senats ist zu lesen: „Viele Menschen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen, riskieren ihr Leben, indem sie gefährliche Routen über das Meer nehmen. Es ist unsere gemeinsame humanitäre Pflicht, alles zu tun, um Menschen vor dem Ertrinken zu bewahren, Flüchtlingsschiffe in sichere Häfen zu bringen und Flüchtlinge nach den Regeln des europäischen und nationalen Asylrechts in Europa aufzunehmen.“ Ein 'sicherer Hafen' zu sein bedeutet einerseits die inhumane Grenzabschottung und Kriminalisierung der Seenotrettung im Mittelmeer zu kritisieren und Überlebende aufzunehmen. Es bedeutet aber auch andererseits, denen, die bereits in unseren Städten leben, ein Leben in Sicherheit und Würde zu gewährleisten. Dafür müssen die Verwaltungspraxis und Rechtslage angepasst werden und die Zugangshürden zur sozialen Infrastruktur abgebaut werden. Bremen kann und sollte eine Solidarity City werden.

Die Stadtbürgerschaft möge beschließen:

1. Die Stadtbürgerschaft fordert den Senat auf, dem europäischen Städteverbund „Solidarity Cities“ beizutreten.
2. Die Stadtbürgerschaft bekräftigt ihre Entschlossenheit, sich auf allen Ebenen dafür einzusetzen, dass das Bundesministerium des Inneren die Aufnahme von aus Seenot geretteten Menschen erlaubt, und dass der Senat seinen Auftrag aus der Drucksache 19/1792 (Menschenleben retten ist kein Verbrechen) umsetzt.
3. Die Stadtbürgerschaft betont die Notwendigkeit, Seenotrettungsschiffe deutscher NGOs unbürokratisch und kostenfrei mit der deutschen Flagge auszuweisen
4. Die Stadtbürgerschaft sieht zur Umsetzung des Solidariy-City-Grundsatzes Handlungsbedarfe in den folgenden Bereichen:
I. Innenpolitik:
a) alle Möglichkeiten und vorhandenen Ermessensspielräume zu nutzen, um das Aufenthaltsrecht zugunsten der Betroffenen auszulegen und Abschiebungen zu verhindern, insbesondere wenn Bedingungen für die Abzuschiebenden in den Herkunftsländern vorliegen, die ein sicheres und würdiges Leben ausschließen.
b) eine deutliche und klare Verwaltungsvorschrift an alle staatlichen Einrichtungen und Institutionen (z.B.Meldestellen, Kitas, Schulen, Krankenhäuser oder der Polizei) zu erteilen, nach der der Aufenthaltsstatus nicht abgefragt wird, sofern nicht Bundesrecht entgegensteht. Melde- und Anmeldeformulare für Kitas oder Schulen sind entsprechend anzupassen.
c) eine Stichtagsregelung einzuleiten, um alle in Bremen wohnhaften papierlosen Personen zu legalisieren.
d) sich auf Bundesebene dafür einzusetzen, den Familiennachzug für alle in Bremen wohnhaften Menschen zu ermöglichen.
e) einen Stadtbewohner*innenausweis (Bremer Pass) zu konzipieren nach dem Model der Stadt New York (New York City Identification Card), welcher für alle in Bremen wohnhaften Menschen unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus nach Wunsch zu beantragen ist. Der Bremer Pass ermöglicht den Zugang zu allen kommunalen Dienstleistungen. Darüber hinaus hat der Senat sich dafür einzusetzen, dass auch gemeinnützige und private Träger sowie Unternehmen, wie zum Beispiel Banken und Sparkassen, diesen Ausweis anerkennen.
f) Racial Profiling zu unterbinden und Maßnahmen bereits bei der Aus- und Fortbildung von Polizist*innen auszubauen, oder Dritte mit der Entwicklung eines Konzepts zu beauftragen, die ein verbessertes Vertrauensverhältnis zwischen Sicherheitskräften und Betroffenen ermöglichen.
II. Soziales:
a) die dezentrale Unterbringung von Geflüchteten anstelle der Unterbringung in Massenunterkünften voranzutreiben, z.B. durch die Schaffung von mehr bezahlbarem Wohnraum.
b) einen Beschluss zu fassen, damit AnkER-Zentren in Bremen nicht errichtet werden dürfen.
c) Unterkünfte zur Verfügung zu stellen, die von allen in Bremen wohnungslos lebenden Personen ganzjährig und unabhängig vom Aufenthaltsstatus genutzt werden können. Mindestens im Winter sind die Notunterkünfte auch tagsüber offen zu halten. Die Unterkünfte bieten darüber hinaus Betreuung und Beratung an.
d) Keine Sanktionen im Rahmen der Leistungsgewährung nach SGB II, SGB XII und Asylbewerberleistungsgesetz mehr zu verhängen.
e) Die Einrichtung einer zentralen, unabhängigen Antidiskriminierungsstelle, welche Anlaufstelle für Betroffene jeder Diskriminierungsform ist und Beratung zur Durchsetzung der individuellen Rechte des Allgemeinen
Gleichbehandlungsgesetzes (AGG), der UN-Kinderrechtskonvention und weiterer Rechtsgrundlagen bietet.
f) nicht-staatliche Initiativen finanziell dauerhaft abzusichern, die eine unabhängige Rechts- Asylverfahrens- und Sozialberatung für in Bremen wohnhafte Geflüchtete und Migrant*innen anbieten, sowie Beratungsstellen für von Gewalt betroffenen Personen, die die Anonymität der Betroffenen gegenüber der Ausländerbehörde bewahren.
III. Gesundheitsversorgung:
a) in Krankenhäusern und Kliniken bedarfsorientiert Übersetzer*innen und mehrsprachiges medizinisches Personal einzustellen.
b) medizinisches Personal durch Fortbildungen, Informationsveranstaltungen oder andere Mittel in Bezug auf Flucht, Papierlosigkeit und die damit verbundenen Folgen zu sensibilisieren und zu schulen.
c) in Zusammenarbeit mit der AOK und dem Gesundheitsressort die Vergabe einer anonymisierten Gesundheitskarte für Papierlose und andere Personengruppen ohne Krankenversicherung einzuführen. Entstehende Kosten sind durch die Kommune zu tragen. Die anonymisierten Gesundheitskarten sind von einem unabhängigen, gemeinnützigen Träger oder einer dazu eingerichteten Clearingstelle auszustellen, die die Anonymität der Patient*innen sicherstellt.
d) eine dauerhaft tragfähige Regelung der Notfallversorgung mit den Krankenhäusern unter Berücksichtigung des Geheimnisschutzes sowie für die Vergütung der Behandlung zu finden.
e) die Rahmenbedingungen für eine Kooperation zwischen der Humanitären Sprechstunde und Facharzt*innen zu schaffen und zu finanzieren.
f) Angebote psychosozialer Beratung und psychiatrischer und/oder psychotherapeutischer Behandlung für nicht krankenversicherte Personen bedarfsgerecht auszugestalten. Dazu sollen auch bei niedergelassenen Therapeut*innen Übersetzer*innen bedarfsorientiert hinzugezogen werden können.
IV. Kinder- und Jugendhilfe:
a) auf SGB VIII §42b (Verfahren zur Verteilung unbegleiteter ausländischer Kinder und Jugendlicher) zu verzichten, spätestens dann, wenn die Jugendlichen sich der Verteilung widersetzen. Für diese Jugendlichen sind von Beginn an alle Rechte der Jugendlichen, wie das Recht auf Schule und alle benötigten Hilfen zur Erziehung zu leisten.
b) alle Jugendhilfestandards auch bei SGB VIII §42 a (Inobhutnahme von ausländischen Kindern und Jugendlichen nach unbegleiteter Einreise) einzuhalten.
c) Im Altersfestsetzungsverfahren nach § 42f SGB VIII (Behördliches Verfahren zur Altersfeststellung) regelmäßig vom angegebenen Alter auszugehen. Sollten erhebliche Zweifel bestehen kann eine Anamnese unter Hinzuziehung der Betreuer*innen und Amtsvormünder*innen durchgeführt werden.
V. KiTa, Schule, Ausbildung und Studium:
a) zu garantieren, dass der Verfügung Nr. 53/2018 des Bildungsressorts
(Schulbesuch von Kindern und Jugendlichen ohne Aufenthaltsstatus) Folge geleistet wird. In Bremen wohnhafte, aber nicht gemeldete Kinder ohne gesicherte Aufenthaltsstatus haben das Recht, eine Schule zu besuchen. Dieses Recht ist in der Bremer Verfassung verankert (Art. 27). Das Schulpersonal soll regelmäßig über die oben genannte Verfügung informiert und über die Umsetzung geschult werden.
b) zusätzliche Plätze und Unterstützungsangebote in den Erwachsenenschulen für Geflüchtete, Papierlose und Personen mit weiterem Bildungswunsch einzurichten, die es ihnen ermöglicht, einen Schulabschluss erfolgreich nachzuholen.
c) Kinder ohne Aufenthaltsstatus die Nutzung der Kindertageseinrichtungen anonym zu gestatten, zu finanzieren und gegebenenfalls eine Clearingstelle zu diesem Zweck einzurichten, ähnlich wie in Hamburg3.
d) Duldungen von Kindern und Auszubildenden in Aufenthaltstitel umzuwandeln
e) Schulen engmaschig auf die Bedarfe ausländischer Schuler*innen anzupassen, wie zum Beispiel durch muttersprachlichen Unterricht oder zweisprachige Schulbücher.
f) Deutschkurse für alle nicht muttersprachlichen Personen unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus bis zum Sprachniveau B2 anzubieten bzw. zu finanzieren.
g) eine Regelung für die Durchführung von Praktika in öffentlich und privaten Sektoren für Menschen ohne oder mit einem prekärem Aufenthaltsstatus zu finden.
VI. Arbeitsmarkt:
a) eine weitere Verbesserung der Regelungen zur Anerkennung ausländischer Bildungszertifikate und Abschlüsse zu erreichen und die Verfahren zu beschleunigen sowie Nachqualifizierungen kostenlos anzubieten.
b) Maßnahmen zu erarbeiten, die papierlose Personen von Ausbeutung schützen und sie gegebenenfalls bei Gerichtsklagen gegen ausbeuterische Verhältnisse unterstützen. Die Sicherung regulärer Erwerbsmöglichkeiten für Menschen mit prekärem oder ohne Aufenthaltsstatus muss intensiviert werden.
c) Programme zu fördern, um nicht Deutschmuttersprachliche in ihren jeweiligen Muttersprachen als Übersetzer*innen auszubilden und im öffentlichen Dienst und Gesundheitssektor einzusetzen.
d) sich für die Lockerung der Wohnsitzauflage einzusetzen, damit an andere Bundesländer zugewiesene, aber faktisch in Bremen wohnende Personen reguläre Arbeitsverhältnisse eingehen können.

Sophia Leonidakis, Miriam Strunge, Kristina Vogt und Fraktion DIE LINKE

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