Nach dem gescheiterten Militärputsch in der Türkei: Für eine Rückkehr der Türkei nach Europa, gegen die Einschränkung demokratischer Rechte

Am 15.Juli unternahmen Teile des türkischen Militärs einen Putschversuch gegen die türkische Regierung. Die Hintergründe sind nach wie vor unklar; Ministerpräsident Yildirim und Staatspräsident Erdogan legten sich unmittelbar nach dem Putsch auf die Gülen-Bewegung als angeblichen Drahtzieher fest. Der Putschversuch brach binnen weniger Stunden zusammen, zum einen durch fehlende Unterstützung, zum anderen durch die Massenmobilisierung der Bevölkerung. Die parlamentarische Opposition stellte sich geschlossen gegen den Putsch.

Mit der Abwehr des Putsches wurde verhindert, dass sich die Folgen zurückliegender Militärputsche in der Türkei wiederholen. Nach dem Militärputsch von 1980 wurden Hunderttausende verhaftet und angeklagt, in tausenden Verfahren die Todesstrafe beantragt, in 517 Fällen ausgesprochen und in 50 Fällen vollzogen, noch mehr Menschen wurden in Gefängnissen zu Tode gefoltert; alle Parteien wurden verboten, die Verfassung aufgehoben. Der 15. und 16.Juli 2016 haben verdeutlicht, dass die breite Mehrheit der Bevölkerung und alle Parteien nie wieder eine Übernahme der Macht durch das Militär wünschen.

Das Vorgehen der türkischen Regierung und der türkischen Staatsorgane seit dem Putschversuch haben jedoch national und international starke Besorgnis ausgelöst, ob die Situation dafür ausgenutzt wird, kritische Stimmen und oppositionelle Organisationen an sich zu bekämpfen und eine Dynamik zu befördern, die auf eine autoritäre Staatsverfassung hinausläuft. Seit dem 16.Juli wurden fast 70.000 Menschen festgenommen, entlassen oder suspendiert unter der Anschuldigung, den Putsch unterstützt zu haben. Ein Drittel aller RichterInnen und StaatsanwältInnen soll entlassen werden. Im Bildungsministerium wurden 15.200 BeamtInnen suspendiert. 16 Fernsehsender, 23 Radiosender, 45 Zeitungen, 15 Zeitschriften, 29 Verlage und 3 Nachrichtenagenturen wurden auf staatliche Anordnung geschlossen, gegen dutzende JournalistInnen liegen Haftbefehle vor. 11.000 Reisepässe wurden annulliert, türkische WissenschaftlerInnen im Ausland zur Rückkehr aufgefordert. Während des zunächst auf 90 Tage angesetzen Notstands ist die Meinungsfreiheit nicht mehr gewährleistet, die Regierung kann ohne das Parlament Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen. In der türkischen Regierung wird erwogen, per Referendum die Todesstrafe wieder einzuführen.

Mit den seit dem Putschversuch eingeleiteten Maßnahmen gefährdet die Türkei die weitere Annäherung an die Europäische Union und ihre Mitgliedschaft im Europarat. Die Wiedereinführung der Todesstrafe würde jede Perspektive auf eine privilegierte Partnerschaft mit der EU oder einen Beitritt definitiv beenden.

Die Bürgerschaft (Landtag) möge beschließen:
Die Bürgerschaft (Landtag) stellt fest:

1. Mit der Abwehr des Militärputsches vom 15. Juli und der breiten Ablehnung des Putschversuchs auch durch die parlamentarische Opposition und die Zivilgesellschaft sind die Voraussetzungen gestärkt worden, die fatale Tradition einer Ausschaltung der Demokratie durch das Militär und einer angemaßten Position des Militärs als vermeintliches oberstes Verfassungsorgan unumkehrbar zu durchbrechen. Die Bürgerschaft begrüßt, dass der Militärputsch niedergeschlagen werden konnte.
2. Die strafrechtliche und politische Aufarbeitung des Militärputsches darf nicht selbst dazu führen, dass demokratische Grundrechte aufgehoben und die Demokratie beschädigt wird. Jedwede Kritik und Opposition zur Regierung unter den Verdacht der Beteiligung am Putschversuch zu stellen und damit als staatsfeindliche Handlung zu verfolgen, wäre gleichbedeutend mit der Etablierung eines autoritären Systems. Die Einhaltung der demokratischen Grundrechte, auf die sich die Türkei mit der Unterzeichnung der europäischen Menschenrechtskonvention verpflichtet hat, darf nicht in Frage gestellt werden.
3. Die Geschwindigkeit und das Ausmaß der Verhaftungen, Entlassungen und Suspendierungen, die Festnahme von JournalistInnen und die Schließung von Medien, die Verwendung bereits vorher existenter Personenlisten, Ausreiseverbote und Rückkehraufforderungen an WissenschaftlerInnen, das Außerkraftsetzen parlamentarischer Prozesse und das Regieren per Dekret sind nicht mit demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzipien vereinbar. Die Bürgerschaft appelliert dringend an die Regierung der Türkei, diese Rechtsverletzungen unverzüglich wieder aufzuheben.

Cindi Tuncel, Sophia Leonidakis, Kristina Vogt und Fraktion DIE LINKE