Umgang mit von Abschiebung bedrohten suizidgefährdeten Geflüchteten durch Ausländerbehörden und Gesundheitsämter im Bundesland Bremen

Mit dem im Februar 2016 vom Bundestag verabschiedeten sog. "Asylpaket II" wurde die Berücksichtigung von Krankheiten als Abschiebehindernis eingeschränkt - psychische Krankheiten wie PTBS (Posttraumatische Belastungsstörung) stehen seither einer Abschiebung regelmäßig nicht mehr entgegen. Dennoch existieren weiterhin Spielräume. So hat der Bundestag in der Gesetzesbegründung zu Art 2 Nummer 1 des sog. Gesetzes zur Einführung beschleunigter Asylverfahren (Drs. 18/7538) ausgeführt: „Eine solche schwerwiegende Erkrankung kann ... zum Beispiel in Fällen von PTBS regelmäßig nicht angenommen werden: In Fällen einer PTBS ist die Abschiebung regelmäßig möglich, es sei denn, die Abschiebung führt zu einer wesentlichen Gesundheitsgefährdung bis hin zu einer Selbstgefährdung.“

Die Ausländerbehörden Bremen und Bremerhaven schieben dennoch Personen ab, bei denen die behandelnden Fachärzte bzw. teils auch das Gesundheitsamt eine erhebliche Suizidgefahr im Fall einer Abschiebung erkennen. Darunter sind auch Personen, die bereits Suizidversuche begangen haben. Neben der Inkaufnahme dieser erheblichen Gefährdung von Leben und Gesundheit der Betroffenen drängt sich der Eindruck auf, dass auch potenzielle weitere wesentliche Gesundheitsgefährdungen z.B. in Form einer Retraumatisierung durch die Abschiebung von den Verantwortlichen nicht hinreichend ausgeschlossen und dadurch in Kauf genommen werden.

So werden ärztliche Reisefähigkeitsgutachten im Gesundheitsamt Bremerhaven seit Kurzem nur noch nach Aktenlage und nicht von Fachärzt*innen angefertigt. Am 28. März verletzte sich eine Frau bei einem Abschiebungsversuch derart schwer, dass sie klinisch behandelt werden musste. Zuvor wurde durch das Gesundheitsamt Bremerhaven nach Aktenlage bescheinigt, „suizidale Handlungen (seien) mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erwarten“.
Der Fall ist besonders schockierend, weist aber auch auf ein generelles Problem hin. Es scheint neue Praxis zumindest in Bremerhaven zu sein, etwaige gesundheitliche Abschiebehindernisse nur noch per Aktenlage zu beurteilen. Diese Absenkung von Verfahrensstandards kann erhebliche negative Konsequenzen für die Gesundheit der Betroffenen und ihrer Familien haben.

Vor diesem Hintergrund fragen wir den Senat:

1. Mit welcher senatorischen Behörde hat sich das Gesundheitsamt (GA) Bremerhaven abgestimmt hinsichtlich des veränderten Behördenhandelns, Reisefähigkeitsbegutachtungen nur noch nach Aktenlage durchzuführen (vgl. Bericht der Senatorin für Wissenschaft, Gesundheit und Verbraucherschutz in der staatlichen Deputation für Gesundheit und Verbraucherschutz am 6. Juni 2017, Lfd. Nr. L-83-19)?
2. Wann wurde diese Absprache zwischen GA Bremerhaven und der entsprechenden senatorischen Behörde getroffen?
3. In wie vielen Fällen wurden seitdem ärztliche Stellungnahmen vorgenommen?
4. Hält der Senat es für angemessen, die Erkrankung der Betroffenen und mögliche Gesundheitsverschlechterung durch eine Abschiebung nur nach Aktenlage zu beurteilen und so Verfahrensstandards abzusenken und individuelle Rechte der Betroffenen einzuschränken, allein wegen des „erheblichen Umfangs von Anfragen der Ausländerbehörde zu Reisefähigkeiten“?
5. Warum stimmt das entsprechende Ressort der Absenkung der Begutachtungsstandards in Bremerhaven zu, die zu einer Gefährdung der Betroffenen wie auch Dritter an einer Abschiebung Beteiligter führen kann, anstatt sicherzustellen, dass die nötigen personellen und fachlichen Ressourcen im Gesundheitsamt Bremerhaven zur Verfügung gestellt werden?
6. Wie erklärt der Senat die Diskrepanz zwischen den Angaben der Senatorin für Wissenschaft, Gesundheit und Verbraucherschutz in der Deputationsvorlage Nr. L-83-19, es handele sich um „eine rein fachärztliche Stellungnahme“ und der Tatsache, dass die ärztliche Stellungnahme zur Reisefähigkeit der Frau, die sich am 28.3.2017 bei einem Abschiebungsversuch in Bremerhaven selbst verletzte, durch einen Allgemeinmediziner im Gesundheitsamt angefertigt wurde?
7. Wie ist die/der die Abschiebung bzw. den Abschiebungsversuch am 28.3.2017 begleitende Ärzt*in zu dem Schluss gekommen, „keine Bedenken“ zu erheben (Antworten des Senats auf Frage 14 in der Fragestunde (Landtag) der Bremischen Bürgerschaft am 11.5.2017)? Aufgrund welcher Erkenntnisse ist er/sie zu dieser Einschätzung gelangt?
8. Ist die allgemeine Haltung des Senats und der Gesundheitssenatorin, dass weder persönliche noch fachärztliche Begutachtungen mehr stattfinden sollen? Wenn ja, mit welcher Begründung?
9. Gilt für den Senat lediglich die Prämisse, dass Abzuschiebende sich vor und während der Abschiebung nicht selbst verletzen? Oder sieht der Senat auch eine Verantwortung für die Anschlusszeit?
10.Wird der Senat die eingangs genannten gesetzlichen Spielräume nutzen, um Suizidversuche oder Suizide möglichst weitgehend auszuschließen, zum Beispiel indem bekanntermaßen suizidgefährdete Personen, bei denen ärztlich bescheinigt von einer wesentlichen Verschlechterung ausgegangen wird, nicht abgeschoben werden und ihnen die benötigte Therapie ermöglicht wird?

Sophia Leonidakis, Kristina Vogt und Fraktion DIE LINKE