Was bleibt vom sogenannten BAMF-Skandal?

Leonidakis

Am 4. November 2020 lehnte das Landgericht Bremen die Eröffnung des Hauptverfahrens gegen die ehemalige Leiterin der Bremer Außenstelle des BAMF „in der ganz überwiegenden Zahl der angeklagten Fälle“ ab (vgl. Pressemitteilung der Pressestelle des Gerichts Nr. 75/2020, 6.11.2020). Darunter fallen alle asyl- und aufenthaltsrechlich begründeten Vorwürfe, denen die Staatsanwaltschaft Bremen seit Mai 2018 mit einer Sonder-Ermittlergruppe mit bis zu 44 Personen und „erheblicher personeller Unterstützung der Bundespolizei sowie der Polizei Niedersachsen und unter Einbeziehung von Expertinnen und Experten des Bundeskriminalamtes und des BAMF“ (Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft Bremen vom 19.09.2019) nachgegangen war.

Angesichts der ursprünglichen schweren Vorwürfe und des Ermittlungsumfanges stellt diese gerichtliche Zurückweisung vieler Anklagepunkte eine Korrektur der politischen, medialen, polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Linie dar. Es hat für die Fragestellerinnen und Fragesteller den Anschein, die größte Ermittlungsgruppe der Bremer Nachkriegsgeschichte habe, unter Mitwirkung zahlreicher Behörden und zeitweise sogar des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), vor allem die Wirkung gehabt, dass eine leitende Beamtin an den Pranger gestellt werden sollte, die eine von der Bundespolitik gewollte restriktive Asylpolitik nicht mittragen wollte (vgl. hwww.ulla-jelpke.de/2018/04/die-restriktive-asylpolitik-ist-der-eigentliche-skan-dal/). In ihrer Antwort auf die jüngste Anfrage der Fraktion DIE LINKE im Bundestag hat die Bundesregierung zugeben müssen, dass Frau B. mit ihrem Handeln nicht einmal gegen interne Dienstanweisungen verstoßen hat. Auch das Gros der medialen Berichterstattung ließ sich schnell zu einer Vorverurteilung aufgrund politischer Äußerungen hinreißen. So hatte beispielsweise der Staatssekretär des Bundesinnenministeriums, Stephan Mayer, in einer TV-Sendung gesagt: „Die Vorgänge in Bremen waren natürlich auch deshalb möglich, weil hochkriminell kollusiv und bandenmäßig mehrere Mitarbeiter mit einigen Rechtsanwälten zusammengearbeitet haben." Diese öffentliche Vorverurteilung musste ihm anschließend gerichtlich untersagt werden. Auch in Bremen wurde öffentlich vorverurteilt.

Das hat laut Aussagen eines anonymen Hinweisgebers dazu geführt, dass während der Ermittlungen entlastende Ansätze nicht verfolgt, entlastendes Material nicht berücksichtigt und einseitig ermittelt worden sein soll. Das anonyme Schreiben benennt zudem angeblich gemachte Vorgaben, die Ermittlungen „nur auf türkischstämmige Rechtsanwälte zu konzentrieren, obwohl auch deutsche Kanzleien involviert gewesen seien“. In der Ermittlungsgruppe habe sich „Verzweiflung“ breit gemacht, weil sich die erhobenen Vorwürfe gegen die ehemalige Leiterin nicht bestätigt hätten. Darüber hinaus seien entlastende E-Mails unterschlagen und es sei einseitig ermittelt worden (vgl. z. B. Süddeutsche Zeitung vom 11. November 2020: „Ermittler im Visier“).

Dieser Vorwurf des Racial Profilings durch die Ermittler*innen wiegt umso schwerer, als dass tatsächlich gegen deutsche Rechtsanwälte ohne Migrationsgeschichte oder -erbe nicht oder kaum ermittelt wurde, obwohl zu der Zeit die gemachten Vorwürfe auch auf sie zugetroffen hätten. Diese Vorwürfe richteten sich tatsächlich gegen übliche anwaltliche Tätigkeiten. Es scheint des Weiteren so, dass die Staatsanwaltschaft für die Ermittlungen nicht ausreichend qualifizierte Mitarbeiter*innen hatte: Sie verfügt über kein Sonderdezernat im Bereich Asyl- und Aufenthaltsrecht, weshalb Mitarbeiter*innen aus den Fachbereichen der „Ausländer- und Schleusungskriminalität, aus anderen Bereichen mit ausländerrechtlichen Berührungspunkten sowie aus sonstigen Tätigkeitsfeldern“ die Ermittlungen führten. Das wirft die Frage auf, ob die Staatsanwaltschaft sich nicht externer und unabhängiger Expertise hätte bedienen müssen.

Im Sinne unvoreingenommener Ermittlungen unverständlich ist auch, weshalb die Staatsanwaltschaft vor der Anklageerhebung im September 2019 keinen Stand zu den Gerichtsverfahren, in denen über die Rechtmäßigkeit der Widerrufungen des Schutzstatus von Geflüchteten entschieden wurde, beim BAMF einholte. Sie hätte sonst erfahren, dass die Gerichte diese Widerrufe aufgehoben hatten, die Rechtmäßigkeit der Entscheidungen unter der Leitung von Frau B. also bestätigten. Diese Rechtmäßigkeit der Entscheidungen wurde in 87% der Fälle bestätigt, während die etwaige Widerrufung eine Schutzstatus noch keinen Rückschluss auf etwaiges rechtswidriges Handeln der Mitarbeiter*innen der Bremer BAMF-Außenstelle zulässt. Eine Quote von 87% rechtmäßigen Bescheide liegt weit über der Quote der negativen Asylbescheide, die im Nachhinein von Gerichten im Sinne der Betroffenen korrigiert werden müssen. Die mediale und politische Vorverurteilung der ehemaligen Leiterin und die Vorwürfe gegen die Ermittlungsgruppe „Antrag“ erschüttern das Vertrauen in die handelnden Institutionen und Personen, insbesondere aus dem Bundesinnenministerium und den Ermittlungsbehörden.

Der Weser-Kurier kam Ende 2020 zu dem Schluss, dass es sich bei der sog. BAMF-Affäre um eine "Blamage ohnegleichen“ gehandelt habe: "Die kärgliche Ausbeute steht in so krassem Gegensatz zu dem Bohei, der um die Bamf-Außenstelle in Vegesack gemacht wurde, dass man sich fragt, was die Ankläger geritten hat. Sie riefen eine Ermittlungsgruppe ins Leben, die es in diesem Umfang in Bremens Justizgeschichte noch nie gegeben hat. Mit Kanonen auf Spatzen, könnte man sagen. Die Folge war unter anderem, dass anderes bei der Polizei liegen blieb. Ein Teil der Präventionsarbeit, zum Beispiel.“ (https://www.weser-kurier.de/deutschland-welt/deutschland-welt-politik_artikel,-der-stich-ins-souffle-_arid,1945419.html).

Die Hauptverhandlung der zugelassenen Anklagepunkte beginnt am 15. April 2020 vor dem Bremer Landgericht. Von 121 durch die Staatsanwaltschaft zur Anklage gebrachten Anklagepunkte wurden nur 22 zugelassen, davon sechs in Bezug auf asylrechtliche Fragen. Unabhängig von der Frage, welche juristischen Konsequenzen übrig bleiben werden nach dem Gerichtsverfahren lässt sich jetzt schon sagen, dass ein massiver politischer und persönlicher Schaden angerichtet worden ist durch erfolgte Vorverurteilungen, personelle Konsequenzen, für die Betroffenen aufreibende Überprüfungsverfahren, mögliche Ermittlungsfehler, einem aus heutiger Sicht unverhältnismäßigen Ermittlungsaufwand und eine scheinbare Bestätigung für rassistische Hetze rechter Parteien in Deutschland, aber auch weit darüber hinaus.

Wir fragen den Senat:

1. Wie genau setzte sich die Ermittlungsgruppe „Antrag“ zusammen? Welche Behörden waren mit wie vielen Beamt*innen über welche Zeiträume beteiligt?
2. Welche interne Struktur hatte sich die Ermittlungsgruppe gegeben? Wie wurde die Ermittlungsrichtung der Ermittlungsgruppe festgelegt und durch wen?
3. Wie arbeitete die Ermittlungsgruppe mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz zusammen und welche Informationen wurden jeweils ausgetauscht?
4. Wie bewertet der Senat Berichte, denen zufolge die Ermittlungsgruppe „Antrag“ einseitig ermittelt haben soll und sogar Racial Profiling in den Ermittlungen vorgekommen sein soll, und wie erklärt sich der Senat, dass gegen deutsche Rechtsanwälte ohne Migrationshintergrund nicht oder kaum ermittelt bzw. jedenfalls keine Anklage erhoben wurde?
5. Wie und durch wen werden diese Vorwürfe aufgeklärt? Gibt es schon Ergebnisse einer etwaigen internen oder externen Untersuchung und dem Verfahren wegen des Anfangsverdachts der Urkundenunterdrückung? Wenn nein, wann ist mit diesen zu rechnen?
6. Wann wurde dem Justizressort darüber berichtet und welche Schlüsse zog es daraus?
7. Wurden disziplinarrechtliche Konsequenzen aus der Untersagung des Verwaltungsgerichts Bremen von Aussagen der Staatsanwaltschaft Bremen gezogen, nach welcher sie nicht mehr sagen darf, die Motivlage der ehemaligen Außenstellenleiterin sei „eher im zwischenmenschlichen Bereich, im emotionalen Bereich – aber eher im einseitigen Bereich zu suchen“?
8. Von welcher Stelle der Ermittlungsgruppe wurden die Aussagen über eine angebliche „Liebesgeschichte“ gegenüber ZEIT-Online getätigt, aus welcher Motivlage heraus und mit wem wurden die Inhalte abgestimmt? Durch welche Stelle und aus welcher Motivlage heraus wurde diese Geschichte und die Ermittlungsakte zu dem Fall Journalistinnen der ZEIT gegeben?
9. Trifft es zu, dass die Bremer Staatsanwaltschaft den Verteidiger*innen der Beschuldigten Mitte 2018 Akteneinsicht in wesentlichen Teilen mit der Begründung verwehrte, die Akten lägen der Staatsanwaltschaft nicht vor und sie benötige diese Akten auch nicht? Falls Ja, wie kam die Staatsanwaltschaft zu dem Schluss, diese Akten nicht zu benötigen und verließ sich die Staatsanwaltschaft bei der rechtlichen Einschätzung dieser Akten tatsächlich auf das BAMF als eine nicht ermittlungsbefugte Behörde?
10. Welche Akten wurden seitens der Staatsanwaltschaft beim BAMF angefordert?
11. Inwiefern wurden Verfahrensakten der Verwaltungsgerichte angefordert, welche die Überprüfung der angeblichen Unrechtmäßigkeit der Entscheidungen über Asylanträge möglich gemacht hätten, die der früheren Außenstellenleiterin zur Last gelegt wurde? Wenn nein, warum nicht?
12. Weshalb erkundigte sich die Staatsanwaltschaft nicht vor der Anklageerhebung im September 2019 über den Stand der höchst relevanten Verfahren, in denen über die fraglichen, an-geblich rechtswidrig getroffenen, positiven Entscheidungen geurteilt wurde?
13. Trifft es zu, dass die Staatsanwaltschaft erst im Mai 2020 Kenntnis davon nahm, dass vom BAMF zugeleitete Unterlagen hinsichtlich der rechtlichen Einschätzung der Schutzstatusgewährung nach den Urteilen von Verwaltungsgerichten mindestens unvollständig, wenn nicht gar unzutreffend waren?
14. Inwieweit hat die Bremer Staatsanwaltschaft versucht, sich eine eigenständige Rechtsauffassung dazu zu verschaffen, unter welchen Voraussetzungen und Bedingungen die Gewährung eines Schutzstatus an für bereits in einem anderen Mitgliedstaat anerkannte Flüchtlinge erfolgen kann oder muss bzw. eine Zurückweisung solcher Anträge als unzulässig oder unbegründet erfolgen darf (oder nicht), wurden hierzu insbesondere Einschätzungen unabhängi-ger Sachverständiger eingeholt oder hat sich die Bremer Staatsanwaltschaft diesbezüglich auf die zugelieferten Bewertungen und Einschätzungen des BAMF verlassen?
15. Wie gelangte die Staatsanwaltschaft zu der Einschätzung, dass sie die Akten der fraglichen Asylverfahren nicht bräuchte, obwohl die rechtliche Einschätzung des BAMF sich inzwischen als fehlerhaft erwies?
16. Teilt die Staatsanwaltschaft bzw. der Senat die Auffassung der Bundesregierung, nach der das proaktive Bereitstellen von relevanten, entlastenden, Informationen durch die*den Dienstherr*in der Beschuldigten für die Bremer Staatsanwaltschaft als „Eingriff in die Unabhängigkeit der Justiz“ (vgl. Bundestags-Drucksache 19/26132) gesehen werden kann? Bitte nachvollziehbar begründen.
17. Ist der Senat der Auffassung, dass die Bremer Staatsanwaltschaft ihrer Pflicht, auch entlastend zu ermitteln, angesichts der vollumfänglichen Zurückweisung der asyl- und aufenthaltsrechtlichen Anklagepunkte durch das Landgericht Bremen korrekt nachgekommen ist, wenn nein, warum nicht?
18. Wie bewertet der Senat die Verhältnismäßigkeit der Untersuchung von 18.000 Bescheiden durch die Ermittlungsgruppe des BAMF vor dem Hintergrund, dass lediglich 47 der Bescheide zurückgenommen bzw. widerrufen worden sein sollen und diese Quote vergleichbar und
sogar überdurchschnittlich korrekt ist im Vergleich zu Widerrufsquoten aus anderen Außenstellen des BAMF?
19. Wie bewertet der Senat die Verhältnismäßigkeit angesichts des aufwändigsten Ermittlungsverfahrens der deutschen Nachkriegsgeschichte in Bremen unter der Führung der Bremer Staatsanwaltschaft vor dem Hintergrund der übrig gebliebenen Anklagepunkte und wie bewertet der Senat, dass die Staatsanwaltschaft sich bei relevanten Akten auf die Einschätzungen der interne ‚Ermittlungsgruppe‘ des BAMF verließ?
20. Wird der Senat Untersuchungen dazu einleiten, inwieweit es innerhalb der Staatsanwaltschaft bei der Aufklärung, Bewertung und Aufarbeitung der inkriminierten Entscheidungspraxis in Bremen zu Fehleinschätzungen oder Fehlern gekommen ist – auch in Zusammenarbeit mit dem BAMF – und wenn nein, warum nicht?
21. Wie bewertet der Senat den Schaden für das Ansehen der Asylprüfung und der schutzsuchenden Menschen selbst, der durch den vermeintlichen „BAMF-Skandal“ entstanden ist?

Sofia Leonidakis, Cindi Tuncel, Nelson Janßen und Fraktion DIE LINKE

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