Bewertung und kritische Aufarbeitung der Maßnahmen in geschlossenen Jugendhilfeeinrichtungen

Jugendliche und Kinder, die in besonderem Maße einer intensivpädagogischen Betreuung bedürfen, können in Deutschland auf der Grundlage des § 1631b Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) geschlossen untergebracht werden. Hierfür muss eine Anordnung des Familiengerichts vorliegen. Wie die Antwort des Senats auf eine Kleine Anfrage der LINKEN ergab, betraf dies in den Jahren von 2011 bis 2016 drei Fälle (vgl. Drs. 19/301 S). Sie wurden in Einrichtungen in Bayern und Niedersachsen untergebracht. In den Jahren vor 2011 wurden laut Senat „mehrfach Kinder und Jugendliche in den Haasenburg-Heimen in Brandenburg bzw. in den Friesenhof-Heimen in Schleswig-Holstein“ untergebracht. Seit 2012 wurde der kindeswohlgefährdende Umgang mit den Jugendlichen und Kindern in diesen Heimen unter anderem durch Pressebericht bekannt, die Heime wurden schließlich 2013 und 2015 geschlossen.

In beiden Institutionen wurde auf bedingungslose Unterordnung gesetzt, die mit Zwang, Herabwürdigung, zum Teil mit körperlicher Gewalt, zum Teil mit wochenlangem Freiheitsentzug in „Einzelhaft“ durchgesetzt wurde. Psycholog:innen, die die Langzeitfolgen von betroffenen Kindern und Jugendlichen untersuchten, stellten zum Teil andauernde schwere traumatische Belastungen fest, die eine Behandlung mit psychotherapeutischen Methoden notwendig machten.

Bereits 2011 wurden Kinder und Jugendliche aus Bremen aus diesen Einrichtungen ausgesteuert. Zudem galt bereits in Bremen die Prämisse, die freiheitsentziehenden Maßnahmen nur als Ultima Ratio innerhalb der Vielzahl an Jugendhilfemaßnahmen anzuwenden.

Aktuell sind die Folgen der geschlossenen Heimaufenthalte für die Betroffenen wieder im Fokus der Öffentlichkeit, weil sich ein junger Mann in Hamburg suizidiert hat, der seit seinem Aufenthalt in einem Haasenburg-Heim unter traumatischen Spätfolgen gelitten hatte. Betroffene und Eltern fordern eine Entschädigung für die erlittenen Misshandlungen in den Heimen, jedoch ist unklar, wie diese aussehen kann.

Vor diesem Hintergrund fragen wir den Senat:

I. Bremer Kinder und Jugendliche in Haasenburg- und Friesenhof-Heimen

  1. Wie viele Kinder und Jugendliche aus Bremen wurde seit dem Jahr 2000 bis zu ihren jeweiligen Schließungen in Haasenburg- und Friesenhof-Heimen untergebracht (bitte differenzieren nach Haasenburg- und Friesenhof-Heimen)?
  2. Wir bitten um eine anonymisierte Aufstellung der einzelnen Kinder bzw. Jugendlichen mit folgenden Angaben: Jahr der Unterbringung, Alter bei Unterbringung, Dauer der Unterbringung sowie Angabe, ob im geschlossenen oder offenen Teil der Einrichtung.
  3. Laut der Antwort des Senats auf die o.g. Kleine Anfrage sind ab 2011 keine Kinder und Jugendlichen mehr in die fraglichen Heime geschickt worden, zumindest nicht in die geschlossenen Abteilungen. Die skandalösen Zustände kamen erst ab 2012 ans Licht der Öffentlichkeit. Welche Gründe gab es, schon vorher Abstand von weiteren geschlossenen Unterbringungen zu nehmen?

II. Folgen der Unterbringung in Haasenburg- und Friesenhof-Heimen für die Bremer Kinder und Jugendlichen

4. Welche Maßnahmen wurden nach der frühzeitigen Aussteuerung der Bremer Kinder und Jugendlichen unternommen, um eine Aufarbeitung des Erlebten zu ermöglichen? Welche Kenntnisse hat der Senat über mögliche Langzeitschädigungen?

5. Welche Kenntnisse hat der Senat aus den Untersuchungsberichten, die zur Schließung der Heime führten, in Bezug auf traumatisierende Erfahrungen, die Bremer Kinder und Jugendliche dort erfuhren?

6. Von der Staatsanwaltschaft Cottbus wurden strafrechtliche Ermittlungen gegen 85 Erzieher:innen und andere Bedienstete der Haasenburg-Heime bearbeitet. Letztlich kam es nur zu wenigen Gerichtsverfahren; viele Vorgänge waren bereits verjährt
a) Ist dem Senat bekannt, ob unter den Leidtragenden der untersuchten Straftaten auch Bremer Kinder und Jugendliche waren?
b) Wurden sie seitens des Amtes für Soziale Dienste bzw. des Jugendamtes unterstützt, und wenn ja, auf welche Weise?
c) Waren staatliche Stellen aus Bremen an der staatsanwaltschaftlichen und gerichtlichen Aufarbeitung beteiligt?
d) Welche Versäumnisse wurden der zuständigen Heimaufsicht und dem Landesjugendamt Brandenburg zugeordnet?

7. Gibt es Kenntnisse seitens der zuständigen Behörden, ob betroffene Bremer Kinder und Jugendliche durch die mindestens teilweise kindeswohlgefährdende Behandlung in den beiden Einrichtungen Folgeschäden erleiden oder erlitten? Gab es Unterstützung bei etwaigen Behandlungsbedarfen, die durch die Zustände in den Einrichtungen entstanden sind?

8. In vieler Hinsicht glichen die Zustände in den Haasenburg- und Friesenhof-Heimen den unverantwortlichen Zuständen, die in den meisten deutschen Heimen bis in die 1970er-Jahre herrschten. Wie steht der Senat zu dem von Betroffenen und Angehörigen erhobenen Anspruch auf finanzielle Entschädigung? Welche Möglichkeiten sieht der Senat, eine Entschädigung analog zu der Entschädigung der „Stiftung Anerkennung und Hilfe“ zu erreichen? Welche Voraussetzungen müssten dafür geschaffen werden? 

9. Gibt es zivilrechtliche Klagen oder Urteile aus Bremen hinsichtlich Schadensersatzes für die erlittenen Schäden, die durch die Unterbringung in den besagten Einrichtungen entstanden sind?

10. Erhalten Betroffene der Missstände in den geschlossenen Jugendhilfeeinrichtungen Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz?

III. In geschlossenen Einrichtungen untergebrachte Bremer Jugendliche seit 2016

11. Wie viele Anträge auf mit Freiheitsentziehung verbundener Unterbringung nach § 1631b BGB (§ 151 Nr. 6 FamFG) und § 151 Nr. 7 FamFG wurden seit dem Jahr 2016 beim Familiengericht gestellt (bitte aufschlüsseln nach Jahren)?

12. Wie viele Kinder und Jugendliche wurden in der Zeit seit 2016 in einer geschlossenen Jugendhilfeeinrichtung untergebracht und welche Einrichtungen waren das?

13. Wenn sich (wie bei der Beantwortung der Frage in der Kleinen Anfrage 19/301 S) eine deutliche Differenz zwischen der Anzahl der Anträge gemäß § 151 Nr. 6 FamFG und der Anzahl der tatsächlich in einer geschlossenen Jugendhilfeeinrichtung untergebrachten Kinder und Jugendlichen ergibt:
a) Gibt es Fälle von Anträgen, die nicht in Abstimmung mit dem Bremer Jugendamt gestellt werden?
b) Und gibt es evtl. Unterbringungen von jungen Menschen in geschlossenen Einrichtungen, von denen das Jugendamt nichts weiß?

14. Wie viele Fälle von jungen Menschen mit besonders intensivem Betreuungsbedarf wurden seit 2016 in dem neu geschaffenen Bremer Kooperationspool bearbeitet?
a) Hat diese Einrichtung nach Einschätzung des Senats dazu beigetragen, die Unterbringung in geschlossenen Jugendhilfeeinrichtungen weiter zu verringern?
b) Welche Unterbringungs- und Versorgungsmöglichkeiten konnten für die betroffenen Jugendlichen durch den Kooperationspool gefunden werden?

15. Ist dem Senat bekannt, ob zurzeit in Jugendhilfeeinrichtungen, in denen Bremer Kinder und Jugendliche untergebracht sind, mit Token- und Phasenmodellen gearbeitet wird? Wenn ja, in welchen? Und wie bewertet der Senat diese Modelle?

Sofia Leonidakis, Cindi Tuncel und Fraktion DIE LINKE
Sahhanim Görgü-Philipp, Björn Fecker und Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Petra Krümpfer, Mustafa Güngör und Fraktion der SPD